Der Sündenbock und das „goldene“ Kind

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In Familien mit narzisstischen Müttern ist so gut wie immer eine Dynamik zu finden, bei der den Kindern Rollen zugeteilt werden: die Rolle des Sündenbocks (das Kind, welches nie gut genug und immer an allem Schuld ist) und die Rolle des goldenen Kindes (welches nie etwas falsch machen kann und talentiert, schön schlau usw. ist). Dies führt zu massiven emotionalen Problemen für die betroffenen Kinder und hat weitreichende Folgen bis ins Erwachsenenleben hinein. Durch die Einteilung der Kinder in "Gut" und "Böse" projiziert die narzisstische Mutter unbewusst ihre eigenen positiven und negativen Eigenschaften auf die Kinder. Dieser Vorgang der Rollenvergabe ist meist von außen nicht zu erkennen und bleibt oft unbemerkt.

Eine häufig zu findende Dynamik in Familien mit narzisstischen Müttern ist die Einteilung der Kinder in gut und schlecht, in „goldenes“ Kind und Sündenbock. Je nach Anzahl der Kinder können beide Rollen von mehreren Kindern besetzt werden und sich unter Umständen im Laufe der Kindheit ändern.
Diese Rollen werden von der narzisstischen Mutter, ähnlich wie bei einem Regisseur in einem Film, bereits so früh festgelegt, dass ein Kind nicht die Möglichkeit hat diese ohne weiteres zu erkennen oder ihnen zu entgehen.

Das goldenen Kind ist, wie der Name schon sagt, das Kind, das großartig ist. Es ist das beste, schönste, klügste, talentierteste und es kann nichts falsch machen. Die Mutter wählt dieses Kind aus, um alle ihre guten Eigenschaften, bzw. die guten Eigenschaften, die sie sich vorstellt zu haben, auf es zu projizieren.
Der Sündenbock ist das genaue Gegenteil, das Kind in dieser Rolle ist nie gut genug. Es ist das Kind, welches da ist, um die negativen Seiten der Mutter zu verkörpern.
Wenn sie (unbewusst) die Entscheidung über die Rollen ihrer Kinder fällt, wägt sie beim Sündenbock, die Schwächen und Stärken des Kindes ab, seine Sensibilität, die Ähnlichkeit zu einem verhassten Elternteil oder dem Ehemann, ob das Kind kompliziert ist (zum Beispiel aus gesundheitlichen Gründen), oder ob es frei heraus sagt, was es sich denkt - kurz gesagt, das Kind, welches ihr am meisten auf die Nerven geht, wird der Sündenbock.


Der Sündenbock

In alten Quellen, z.B. im Alten Testament wurde eine Ziege oder ein Ziegenbock vom Rest der Herde separiert und als kollektives Opfer für die Vergebung der Sünden der gesamten Gruppe geschlachtet.
Häufig sollten so Hungersnöte und Naturkatastrophen bekämpft oder Gott besänftigt werden, wenn nicht klar war, wer aus der Gruppe eine Sünde begangen hatte. Jedes Mitglied der Gemeinschaft konnte nun seine Sünden auf dem Ziegenbock “ablegen” und hoffen, dass durch das Entfernen des Bockes auch die Sünden entfernt würden.

undefinedDieser metaphorische Sündenbock funktioniert im Familiensystem ganz ähnlich.
Das “schwarze Schaf” wird ausgesondert und mit allen dysfunktionalen oder negativen Eigenschaften belastet und ausgeschlossen. Dieser Prozess ist unbewusst und wird meist mehr oder weniger direkt von der ganzen Familie getragen.

Häufig hat das Kind, dem diese Rolle zugespielt wird, die Eigenschaft besonders liebend und sorgend zu sein und ist meist zudem das emotional stärkste Kind. (Schließlich muss es in der Lage sein, die Mängel der ganzen Familie zu tragen.)
Das Kind wird (in den meisten Fällen) für den Rest seines Lebens den Löwenanteil der Scham, Schuld, Wut und Ablehnung der gesamten Familie auf seinen Schultern tragen. Auch wenn es in einem Bereich besonders gute Leistungen erbringt, wird es nie gut genug sein und meist gerade dann bösartige Kommentare ernten.
Es wird der Familie die Möglichkeit geben, nach außen hin gesund und normal auszusehen und für alle Dysfunktionen verantwortlich sein.

Diese Situation ist belastend für das Kind, und es wird schnell begreifen, dass es nie gewinnen kann. Je mehr Mühe es aufbringt, desto häufiger und grausamer werden die Kritik und der emotionale Stress, den es aufgebürdet bekommt. Die Mutter fühlt sich bedroht, da ihre Perfektion in Frage gestellt werden könnte und reagiert auf jeden Erfolg destruktiver.
Das Kind wird sich mit hoher Wahrscheinlichkeit in die Rolle des Versagers, des Problembereiters einfügen. Diese Akzeptanz wird dann mit geringerem Missbrauch und gelegentlicher Unterstützung belobigt. Immer dann, wenn sich das Kind als hilflos, ungeschickt und schwach darstellt wird es mit größerer Wahrscheinlichkeit Lob und Unterstützung erfahren.

Einmal in die Rolle gebracht, ist es wahrscheinlich, dass Kinder narzisstischer Mütter, die Rolle, die ihnen auferlegt wird, auch in ihren Interaktionen und Beziehungen im Erwachsenenleben fortsetzen, was das Potential besitzt, sich hochgradig zerstörerisch auf das ganze Leben auszuwirken. Der Sündenbock, dem das ganze Leben lang eine Unzulänglichkeit attestiert wurde, ist in der Regel davon überzeugt, dass an ihm etwas falsch ist. In seinem Verhalten gegenüber anderen Menschen wird sich dies widerspiegeln und sich auf die Reaktionen anderer auswirken. Kindern, denen diese Rolle zugetragen ist, werden oft als “Opfer” auserkoren, sei es in der Schule, am Arbeitsplatz oder in Partnerschaften. Sie versuchen verzweifelt, es allen recht zu machen und werden dennoch kritisiert. Fehler werden ihnen zugewiesen, da sie in ihrer Handlung, Körpersprache und auf ihr ganzes Verhalten bezogen, die Opfer - Position unbewusst ausstrahlen. Diese Haltung wird häufig ausgenutzt und wirkt anziehend auf die weniger freundlichen Zeitgenossen unserer Gesellschaft. Das Kind, nun erwachsen, hat gelernt, dass es bestraft wird, wenn es sich gegen Missbrauch wehrt. Es wird das Unrecht hinnehmen und ist das perfekte Opfer für Mobbing und verbalen Attacken.

Auf der anderen Seite hat das Kind in der Rolle des Sündenbockes die schmerzhaftere, jedoch “bessere” Rolle erwischt. Das geringe Selbstbewusstsein und die Gewohnheit, die Schuld bei sich selbst zu suchen, ermutigt diese Kinder narzisstischer Mütter oftmals dazu, mit Therapeuten zu sprechen, sich Bücher oder Informationen im Internet zu besorgen und herauszufinden, was mit ihnen “verkehrt” ist. Wenn die Rolle erst einmal erkannt ist, kann sich das Kind daraus befreien und sich von ungesunden Beziehungsmustern lösen.
Das „goldene“ Kind wird diese Erfahrung nur selten machen können.

 

Das „goldene“ Kind

Wie oben erwähnt, ist das goldene Kind dasjenige, das nichts falsch machen kann. Es ist perfekt, auch wenn es nicht perfekt ist. Es wird für geringe Leistungen gelobt und erhält Unterstützung und Aufmerksamkeit. Diese unterschiedliche Behandlung führt oft zu Eifersucht zwischen den Kindern und kann sie auseinander treiben. undefinedDie narzisstische Mutter zieht Nutzen aus diesem Vorgang und hilft oftmals aktiv mit, einen Keil zwischen die Geschwister zu treiben. Die narzisstische Mutter kann mehr oder weniger subtil das „goldene“ Kind dazu anstacheln, sich am Missbrauch des Sündenbocks zu beteiligen, und sich selbst aber als “Vermittler” zwischen die Kinder stellen (siehe Triangulierung). Kinder lernen schnell, dass sie einer Bestrafung oder Tadel entgehen können, wenn sie die Schuld auf andere übertragen.

Es kommt vor, dass die narzisstische Mutter durch das Kind zu leben versucht und das Kind in die Position bringt, in der es gezwungen ist, die Wünsche der Mutter zu erfüllen und keine Möglichkeit findet, eigene Träume, Interessen und Begabungen zu leben. Die Mutter erfährt die Erfolge des Kindes hierbei oft, als wären es die eigenen, ohne dabei auf die Bedürfnisse des Kindes einzugehen. Deutlich wird diese Form von Grenzüberschreitung in Formulierungen, die den Plural „wir” verwenden, anstatt über das Kind zu sprechen: „Wir waren im letzten Schuljahr sehr erfolgreich!”; „Wir werden daran auch weiterhin hart arbeiten!”; „Wir lassen uns von Niederlagen nicht einschüchtern!”

Goldene Kinder wachsen mit einer hohen Anspruchshaltung auf. Dies kann sich unterschiedlich auf das spätere Leben auswirken. Zum einen können die Kinder zu erfolgreichen Erwachsenen aufwachsen, umgeben von Statussymbolen und nach außen hin perfekten Familien. Zum anderen kann es jedoch auch vorkommen, dass diese Kinder nie lernen konnten, hart für etwas zu arbeiten und auch noch als Erwachsene zu Hause leben oder es nicht schaffen, das eigene Leben zu organisieren.

Das „goldene“ Kind wird von der narzisstischen Mutter umgarnt und umworben und hat oft auch im Erwachsenenalter Probleme, sich aus dieser Umklammerung zu befreien. Oft mangelt es diesen Kindern an persönlicher Identität und der Fähigkeit, Grenzen setzen zu können. Wie auch bei der Mutter kann es leicht vorkommen, dass „goldene“ Kinder ihr eigentliches Selbst verleugnen und eine “verbesserte Version” von sich spielen, die sie mit aller Macht zu erhalten versuchen. Sie sind gefangen in einer oberflächlichen Welt von künstlichen Erfolgen und Lob und es wird von ihnen verlangt, ihre Identität gegen dieses künstliche Selbstbild einzutauschen.
Die Gefahr, dass sich auch hier eine narzisstische Persönlichkeitsstörung entwickelt, ist gegeben.

 

Warum geschieht dies?

Die Entstehung dieser Familienrollen basiert auf Projektion. Narzissten verbringen 100% ihres Tages damit, das Bild, das sie von sich haben, aufrecht zu erhalten. Jegliche Situation, in der diese Fassade zu bröckeln droht, muss dabei um jeden Preis und zu allen Kosten vermieden werden. Der narzisstischen Persönlichkeitsstörung unterliegt ein Kompensationsmechanismus für das extrem geringe Selbstwertgefühl, unter der der narzisstische Mensch leidet. Menschen mit dieser Störung haben es nie geschafft, die emotionale Stufe eines Kleinkindes zu überschreiten. Durch die Erschaffung eines überlebensgroßen “Superman-Ichs” kompensiert schon das kleine Kind das geringe Selbstwertgefühl und die fehlende oder ungenügende primäre Bindung zu einer Bezugsperson. Andere Menschen werden nicht als eigenständige Persönlichkeiten wahrgenommen, sondern in die Wertekategorie eines Gegenstandes eingeordnet.

Wenn eine Mutter mit NPS ihrem Kind in die Augen sieht, so wird sie vieles sehen, narzisstische Zufuhr, ein Objekt über das Macht ausgeübt werden kann, nervende Eigenschaften, störende Verantwortung, unverständliche Gefühle usw., aber nie das Kind an sich.
Narzissten sehen sich selbst als makellos. Alle Fehler müssen bei den anderen liegen. So werden besonders die Seiten, die der Narzisst verbergen möchte und von denen er ablenken muss, auf das Kind projiziert, welchem die Rolle des Sündenbockes zugeschrieben wurde. Narzissten ernten auf diese Art nicht nur die Aufmerksamkeit des Kindes, welches verzweifelt versucht, alles richtig zu machen, sondern sie genießen eine hohe Form von Macht und laden ihren Ärger und ihre Ängste ungesehen ab. Das, was sie an sich hassen, kann nun extern gehasst und die Wut, die sie über sich selbst haben, ausgelebt werden.

Zudem steht die narzisstische Mutter, sobald sich in einer dysfunktionalen Familie Auffälligkeiten bei den Kindern bemerkbar machen, vor der Entscheidung, Verantwortung für diese Probleme zu übernehmen und nach eigenen Defiziten oder Handlungsweisen zu schauen, die sich auf das Kind negativ ausgewirkt haben könnten, oder die Schuld direkt bei den Kindern zu suchen. Da Narzissten von ihrer Grandiosität und Perfektheit überzeugt sind, fällt die Wahl auf letzteres.

Das „goldene“ Kind auf der anderen Seite verkörpert die guten Eigenschaften. Es unterstützt die Mutter und es wird unterstützt. Die Mutter hat hier eine lebende Trophäe und erfährt oft Loyalität. Sie erhält Aufmerksamkeit und kreiert meist ein Abhängigkeitsverhältnis, welches vom Kind schwer zu durchbrechen ist und fast immer bis ins hohe Erwachsenenalter bestehen bleibt.

Diese Rollenverteilung kann selbstverständlich auch bei mehr als nur zwei Geschwistern vorkommen. Die Rollen werden dabei mehrfach vergeben und können sich, je nach Situation, auch über die Jahre ändern.